Leseprobe

Zwischen zwei Welten

 

Gedankenverloren sitze ich am Küchentisch. Ich betrachte das Pendel der Wanduhr, als sähe ich es zum ersten Mal. Ticktack, Ticktack. Es wechselt zwischen zwei Welten, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Es pendelt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Ticktack, Ticktack. Unermüdlich im Sekundentakt. Ticktack, Ticktack.Dann wird Alles um mich herum plötzlich durchsichtig. Das Pendel verfärbt sich gräulich, und kurz bevor es sich auflöst, hat sich auch das Zifferblatt verflüchtigt, so dass die Zeiger einen Moment in der Luft schweben. Der Küchentisch ist fort und das Haus ist fort – um mich ist nichts als weisses Licht und absolute Stille.

 

Die Mittagssonne brennt auf das alte Haus meiner Grosseltern mit der weissen Fassade und den einladenden grünen Fensterläden. Die Luft ist so heiss, dass sie flimmert. Drinnen ist es dunkel, denn die Fensterläden sind im Sommer stets geschlossen um die drückende Hitze nicht hereinzulassen. Im Wohnzimmer sehe ich die Umrisse meiner Grossmutter. Maria döst friedlich auf ihrem alten, abgewetzten Lieblingssofa. Sie gönnt sich ein Nickerchen und auf ihren Füssen liegt, wie so oft, Mimi, die Katze. Mein Blick wandert durch das Zimmer, vorbei an den Gardinen, bis er hängen bleibt und mir den Atem raubt: Da steht sie – die grosse Wanduhr! Bis fast zur Decke reicht sie. Riesig gross erscheint sie mir aus der kindlichen Perspektive und majestätisch schwingt das Pendel. Ihr lautes Ticken ist in allen drei Stockwerken zu hören, trotz der massiven Steinmauern mit welchem das Haus um 1810 erbaut wurde. Immer zur vollen Stunde erklang eine Glocke die so laut war, dass Mimi hochsprang und fluchtartig den Raum verliess. Meine Grossmutter schien die Klänge des antiken Chronometers nicht wahrzunehmen – sie schlief friedlich weiter. In den Ferien weilte ich oft bei meinen Grosseltern. Ich erinnere mich an die Nächte an welchen ich in meinem Zimmer wach lag, weil mich die Geräusche dieser Wanduhr um den Schlaf brachten. Ich tat kein Auge zu. Ich fluchte vor mich hin, ich hasste das Ding, ich verwünschte es. Es schien, als könnte ich mich nie an dieses nervenaufreibende Ticktack gewöhnen. Und doch, nach ein paar Tagen und Nächten passierte jeweils etwas Sonderbares: Ich nahm das Ticken immer weniger war. Es war zwar nicht verschwunden, aber ich hatte mich daran gewöhnt.

 

Heute besitze ich selber eine Wanduhr. Mit Pendel. Entdeckt bei meinem letzten Urlaub in einer der unzähligen, verwinkelten und engen Gassen von Nizza. Ihr pastellfarbenes und leuchtendes Lila weckt Erinnerungen an blühende Lavendelfelder der Provence oder an ein Gemälde von Manet.

 

Ich versuche zu denken. Woran ich mich erinnern kann, sind die schwebenden Zeiger. Hinter ihnen taucht aus dem Nebel das Zifferblatt der Wanduhr auf. Was ich mir vorstellte, nimmt Gestalt an und wird Wirklich. Nun habe ich meinen Küchentisch und jetzt das Haus wieder. Während sich die letzten weissen Flecken in der Umgebung füllen, höre ich es wieder. Gedankenverloren sitze ich am Küchentisch. Ich betrachte das Pendel der Wanduhr, als sähe ich es zum ersten Mal.

Ticktack, Ticktack.